Kabelbinder-Barbie

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Schritt gehen soll. Aber wissen Sie was, es ist Pride Month, ich tue es jetzt einfach, ich oute mich. Als was, weiß ich noch nicht, weil ich ehrlich gesagt bei dem schier endlosen Angebot an Möglichkeiten den Überblick verloren habe. Vielleicht können Sie mir ja bei der Entscheidung helfen?

Coco Flanell outet sich

Eines steht jedenfalls fest, ein normales Mädchen war ich nie. Das wurde mir von Kindheit an von normalen Menschen attestiert und die mussten es ja schließlich wissen.

Damals, in den 80ern, gab es Buben, Mädchen und aus. Alles war feinsäuberlich nach zwei Geschlechtern getrennt: Spielsachen, Kleidung, Hobbys, Ausbildungen, Berufe. Da ich in so ziemlich jeder Kategorie in die verkehrte Richtung tendierte, war ich meiner Umgebung von klein auf suspekt. Aber lesen Sie selbst.

Die lange blonde Mähne von Büro-Barbie musste bereits nach einer Woche einer rot-blau gestreiften Kurzhaarfrisur weichen, weil mir die dauernde Frisiererei zu blöd war. Überhaupt war mir alles zu blöd an Barbie. Sie konnte nicht stehen, sondern nur dumm in der Gegend herumsitzen oder -liegen, sie verlor ständig ihre Stöckelschühchen und beim Umkleiden, dem einzigen Feature der Lady, musste man aufpassen, dass man sich nicht ein Auge ausstach mit der pfeildünnen Gestalt.

Immerhin blieb Büro-Barbie das Schicksal von Ballett-Barbie erspart. Die bekam eine Stoppelglatze verpasst, weil mir das im Alltag praktischer erschien als ihr hüftlanger Pferdeschwanz. Das war aber weit weniger tragisch für sie, als man vermuten möchte, denn sie war ohnehin bereits mit dem halben Ken liiert.

Der hieß so, seit er beide Beine bei einem „Unfall“ verloren hatte, über dessen Umstände ich aufgrund einer Verschwiegenheitsvereinbarung nicht sprechen darf, und war fortan nicht mehr der begehrteste Junggeselle im Puppenhaus. Also musste er sich mit Stoppelglatzen-Barbie als Partnerin zufrieden geben, die sich auch trotz ihrer desaströsen Optik keine Sorgen um seine Treue zu machen brauchte. Sie wissen schon, Angebot und Nachfrage.

Einzig Rockstar-Barbie war frisurentechnisch vor mir sicher. Das lag daran, dass mich ihr winziger Lederminirock und das schrille Make-up sehr an die Prostituierten erinnerte, die in meiner Kindheit noch nicht ins Internet verbannt waren, sondern an den Wiener Gürtel.

Für uns Dorfkinder waren sie die Hauptattraktion bei jeder Theaterfahrt nach Wien. Diese Damen hatten nunmal keine Stoppelglatze, also durfte Rockstar-Barbie ihre Haare behalten, trug allerdings fortan den wenig charmanten Namen Gürtelhuren-Barbie. So schnell kann eine Karriere als Rockstar vorbei sein.

Gürtelhuren-Barbie war verheiratet mit Skeletor. Er war auch ihr Zuhälter und eine unfreiwillige Leihgabe meines Bruders. Der hat nämlich die viel interessanteren Puppen bekommen als ich. Die konnten nicht nur stehen, die hatten auch noch diverse Tricks auf Lager.

Oft brachte Skeletor seine Gang mit nach Hause, die sich ganz bescheiden „Masters of the Universe“ nannte. Als da waren He-Man, Man-At-Arms, Beast Man und Mer-Man.

Ebenso wie die Barbies vermittelten die Masters of the Universe uns Kindern ein vollkommen natürliches Körperbild, in diesem Punkt achteten die Spielzeugdesigner von Mattel strikt auf Gleichberechtigung.

Auch das Puppenhaus meines Bruders war viel cooler als mein Pappkarton-Townhouse in Pastell. Die Masters of the Universe wohnten in einem überdimensionalen Totenkopf namens Castle Grayskull, hatten einen Thron mit Falltür, einen Kerker und einen Aufzug in die Waffenkammer.

Die Barbies hatten nur eine vollausgestattete Küche, einen Schminktisch und ein Himmelbett. Damit hatten sie zwar alles, was eine Frau so braucht im Leben, aber ich bitte Sie, wer würde so wohnen wollen, wenn er in einem Totenkopf mit Falltür wohnen könnte? Eben!

Zu dieser Zeit stellte sich also heraus, dass ich gendertechnisch irgendwo falsch abgebogen sein musste. Ich war nicht nur auf die Puppen meines Bruders neidisch, sondern auch auf das ihm zugewiesene Hobby. Er musste Fußball spielen. Ich durfte nicht. Ich musste stattdessen zum Ballett-Unterricht. Ich wollte nicht.

Meine Karriere dort war entsprechend bescheiden. Den Unterricht verbrachte ich nicht selten alleine in der Garderobe, weil meine – wie ich fand, sehr unterhaltsamen – Kunststücke bei der Lehrerin keinen Anklang fanden. Und bei Aufführungen wurden mir so glanzvolle Rollen zuteil wie Baum oder Pilz. Ich war also mehr Teil des Bühnenbilds als des Ensembles. Zum Glück hatte das Trauerspiel bald ein Ende – der Schwan war endlich tot, könnte man sagen.

Damit hatte ich auch wieder mehr Zeit für meine zweite Karriere. Ich war nämlich Bandenchef in unserer Siedlung und das war nun wirklich kein einfacher Job. Tagaus, tagein musste ich mir hirnrissige Aktionen einfallen lassen, um den Nachbarskindern, die meine Aufnahmeprüfung bestanden hatten, mit meiner Verwegenheit zu imponieren. Die Aufnahmeprüfung hatte nur zwei mögliche Ergebnisse: a) bestanden, b) Lorenz Böhler Unfallkrankenhaus.

Unsere Aktionen hatten nicht selten etwas potenziell Lebensgefährliches. Kein finsterer Kanal war eng genug, um nicht doch hineinzukriechen. Kein loser Bretterboden über einer Heumaschine unsicher genug, um nicht doch eifrig ein Versteck dort zu errichten. Kein Abbruchhaus einsturzgefährdet genug, um es nicht nach Schätzen zu durchsuchen und kein Ziegeldach alt genug, um es nicht als Fluchtweg vor verfeindeten Banden zu nutzen.

Dass meine gesamte Gang wohlauf das zehnte Lebensjahr erreicht hat, lag einzig und allein an meinen herausragenden Qualitäten als Bandenchef. Dass andere Kinder bei Besuchen nicht mit uns spielen wollten, ebenfalls.

Als Bandenchef legte ich in punkto Outfit auf zwei Dinge besonderen Wert: Individualität und Hosen. Kleider waren mir ein Graus. Und am grauslichsten waren sie im Doppelpack. Leider war es damals en vogue, Schwestern oder Cousinen als Zwillinge zu verkleiden. Rosa Rüschen oder My-Little-Pony-Motiv, wahlweise. Beides nicht förderlich für die Street Credibility.

Im zarten Alter von 14 Jahren hatte man sich dann für seine zukünftige Berufslaufbahn zu entscheiden. Für Buben hieß das HTL, für Mädchen HLW – liebevoll genannt Knödelakademie – oder HAK. Wer nicht mehr in die Schule gehen wollte, durfte eine Lehre machen. Mädchen wahlweise als Bürokauffrau oder Frisörin, Buben als Elektriker oder Mechaniker.

Nach meinem haarigen Attentat auf Büro-Barbie war meine Haltung zu den Berufen Bürokauffrau und Frisörin klar. Auch mit Hauswirtschaft hatte ich nichts am Hut, also steckte man mich dankenswerterweise nicht in die Knödelakademie.

Blöderweise interessierte ich mich auch nicht für Buchhaltung. Jetzt reichte es aber! Augen zu und durch, fünf Jahre HAK vergehen doch wie im Flug und so ein Rechnungswesen-Trauma ist doch ganz schick. Das Gymnasium war jedenfalls keine Option, weil damit gab es fix keinen Job nach der Matura. Gott bewahre, am Ende würde das Kind noch studieren wollen!

Also wurde ich eine extrem unauffällige Schülerin, weil geistig und oft auch physisch überall, nur nicht in der Schule. Wenn meine Unauffälligkeit zu auffällig wurde, sprich, ich beim Schwänzen erwischt wurde, war Feuer am Dach. So etwas machte ein Mädchen nicht. Buben schon. Die mussten ja rebellieren zwecks Mannwerdung. Mädchen brauchten nicht zu rebellieren zwecks Liebundnettwerdung.

Als Teenager war ich in einem Internat untergebracht, in dem 500 Burschen lebten und 15 Mädchen. Das war herrlich. Zum einen, weil wir mangels Nachfrage nicht mit Mädchenzeugs belästigt wurden, zum anderen, weil … na, was glauben Sie?

Spätestens mit Mitte 20 musste man die Hoffnung, dass aus mir nach der Pubertät doch noch ein richtiges Mädchen werden würde, endgültig begraben. Es stellte sich nämlich heraus, dass ich an einer klassischen Karriere als fürsorgliche Hausfrau und Mutter so gar kein Interesse hatte.

Ebenso wenig an der Rolle „Prinzessin für einen Tag“. Auf meinen Hochzeitsfotos trage ich daher keinen Traum in Weiß, sondern einen Schianzug in Blau. Die Entrüstung der Verwandtschaft hielt länger als die Ehe.

Zum Glück traf ich später auf Herrn Flanell. Mit dem dürfte auch etwas nicht stimmen, denn er hat bis heute nicht bemerkt, dass ich gar keine richtige Frau bin.

Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich mir mittlerweile ein Frauen-Hobby zugelegt habe: Shoppen. Am liebsten bei Obi, Hornbach oder im Lagerhaus. Mein Mann und ich teilen nämlich eine Leidenschaft, das Heimwerken. Bevorzugt bauen wir Provisorien. Die sind stets für die Ewigkeit gemacht.

Bei ihm ist die Vorliebe für Provisorien genetisch bedingt, bei mir erotisch. Ich habe einen Kabelbinder-Fetisch. Machen Sie sich keine Sorgen um Herrn Flanell, ich lebe meinen Fetisch ausschließlich in Haushalt und Garten aus.

Schon als Jugendliche erwies ich mich als äußerst talentiert in pragmatischer Haushaltsführung, die ersten Vorzeichen des Kabelbinder-Fetischs machten sich früh bemerkbar. Ein Handtuch musste aufgehängt werden? Kein Problem, wozu eine Schlaufe annähen, wenn man auch einfach ein Loch hineinschneiden konnte? Ein Strickpullover trennte sich auf? Wozu stopfen, wenn man eine Heftklammermaschine besaß? Der Staub auf der Kommode erreichte eine bedenkliche Höhe? Nichts, was sich nicht mit einem Haarföhn in wenigen Sekunden beseitigen ließ.

Nur beim ultimativen Gender-Test schnitt ich doch von Kindheit an stets eindeutig als weiblich gelesene Person ab. Wie sieht´s bei Ihnen aus?

Eine lästige Aufgabe muss dringend erledigt werden. Ihre Mutter/Chefin fragt, ob Sie sie übernehmen können. Sie antworten:
a) Na klar!
b) Das muss meine Schwester/Kollegin machen, ich kann das leider nicht.
c) Kann das nicht meine Schwester/Kollegin machen? Die kann das doch viel besser als ich
!

So, jetzt wissen Sie hoffentlich, mit wem Sie es hier zu tun haben. Ich selbst weiß es leider nicht. Deshalb habe ich gestern auch nicht an der Pride Parade teilgenommen. Ich konnte mich nämlich partout nicht für eine Geschlechtsidentität entscheiden.

Bin ich nun genderfluid, nicht binär, librafeminin, agender, Demigirl, Tomboy … oder doch cis? Wissen Sie was, nächstes Jahr gehe ich einfach als ich. Man kann ja auch bloß so stolz auf sich sein, genderneutral sozusagen.

Sollten Sie auch ein Kind haben, das sich nicht ganz so entwickelt wie erhofft, machen Sie sich nichts draus. Das verwächst sich schon noch. Oder auch nicht. Eigentlich egal. Wie wär´s mit einer Kabelbinder-Barbie zum nächsten Geburtstag?

Happy Pride!
Ihre Coco Flanell (she/her/me!)