Dreierlei Allerlei

Herr Flanell hat mich betrogen. Es war eine langjährige Affäre. Der Sündenfall ist schon eine ganze Weile her, aber die Wunde sitzt tief. Bis heute bin ich nicht darüber hinweggekommen. Gerade eben ist sie wieder aufgerissen, die Wunde. Denn auch Herr Flanell konnte die Andere offensichtlich nie ganz vergessen.

Ich stand grantig am Herd vor einem Topf Semmelknödel oder vielmehr ihren hilflos im Kochwasser umhertreibenden Einzelbestandteilen, als Herr Flanell nach einem abschätzigen Blick auf das kulinarische Desaster mit Herzerln in den Augen von Olgas Kochkünsten schwärmte. Wieder einmal. Olga heißt sie, die Andere.

Olga ist Pflegerin und Haushaltshilfe (was für ein Hilfsausdruck!), kann einfach alles und war das Beste, was meiner Großmutter – und meiner Familie – in deren letzten Lebensjahren passieren konnte. Nur mir nicht.

Das einzige, das Olga nicht kann, ist, sich kochtechnisch in Understatement zu üben, wenn Küchen-Katastrophen wie ich anwesend sind. Anstatt Reis mit Senf zu kredenzen, um meine Spezialität – Nudeln mit Ketchup – besser dastehen zu lassen, trumpfte Olga bei jedem Besuch mit neuen Köstlichkeiten auf. Eine blöde Angeberin ist sie, die Olga!

In Olga hatte Herr Flanell seinen perfekten Gegenpart gefunden. Stets lobte er ihre Kochkünste über den grünen Klee, nie war er um ein neues Superlativ auf der Geschmacks-Skala verlegen. Olga wiederum tätschelte liebevoll seinen ultramännlichen Schnitzel-und-Mehlspeisen-Bauch, lobte seinen gesunden Appetit und schmierte ihm fleißig Bratensaft ums Maul. Olga weiß, was Männer wollen. Ganz besonders weiß sie, was mein Mann will, die blöde Kuh!

Herr Flanell und Olga, in flagranti
Herr Flanell mit Olga, in flagranti

Ich nahm die Herausforderung – gezwungenermaßen – an. Nachdem ich mich mit den Jahren zu einer ganz passablen Köchin entwickelt hatte, musste Olga mit immer perfideren Tricks um das Herz meines Mannes buhlen. Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen und Olga kämpfte mit harten Bandagen.

Höhepunkt ihres Balzens war folgende Begebenheit, die ich ihr nie verzeihen werde, weil damit KANN ich nicht nur nicht, sondern WILL ich auch nicht konkurrieren. Das wäre mir viel zu anstrengend, da würde ich lieber Single werden:

Familienzusammenkunft, irgendein Geburtstag oder Feiertag. Es gibt Suppe, danach Ente mit Knödeln und Rotkraut. Das gab es bei der Mama-Oma schon immer, wenn es etwas zu Feiern gab. Diesmal allerdings gab es eine Neuerung im Programm. Für Herrn Flanell – und nur für Herrn Flanell! – gab es nach der Vorspeise (Hühnersuppe mit Nudeln, Ente mit Knödeln und Rotkraut, Salat) noch eine Hauptspeise (Schweinsbraten mit Sauerkraut) und eine Nachspeise (Kalbsschnitzel mit Erdäpfelsalat). Danach gab es Dessert. Diesmal wieder für alle. Herr Flanell schwebte im siebten Himmel. Dreierlei Allerlei, nur für ihn! Olga, du Bitch!

Für jemanden, der kulinarisch von der Papa-Oma mit Saufutter sozialisiert wurde (das Gericht hieß wirklich so!; Bandnudeln mit Grieß und weißen Bohnen und einer Soße aus Einbrenn und Bohnenkochwasser), zur Abwechslung auch mit Mehlknödeln (Mehl, Wasser, Ei) mit saurer Soße (Einbrenn, Wasser, Essig) und einmal sogar mit Hirn mit Ei (Hirn mit Ei), waren meine Nudeln mit Ketchup eine kochtechnische Evolution, für die ich mir mindestens einen Michelin-Stern erwartet hätte. Und dann kam Olga daher und machte mir alles kaputt!

Während die Papa-Oma in punkto Hauptspeisen sehr rustikal – und sparsam – war, konnte ihr in Sachen Weihnachtskekse niemand etwas vormachen. Jede einzelne der mindestens 37 jährlich selbst hergestellten Sorten war ein absolutes Gedicht, optisch wie geschmacklich.

Oma war nicht nur bekannt für ihre Sortenvielfalt, sondern auch für ihren Lieferservice. Jeder ihrer Söhne bekam EINE Dose Kekse, die für deren jeweilige Familie vom ersten Adventsonntag bis zu den Heiligen Drei Königen ausreichen musste. Die restliche und EIGENTLICHE Keks-Produktion war reserviert für Ärzte sämtlicher Fachrichtungen im ganzen Bezirk.

Jedes Jahr war ein anderes Enkelkind zuständig für die Auslieferung der Arztkekse, konstant war nur die fein herausgeputzte Oma am Beifahrersitz. Für diesen Anlass tauschte sie sogar ihre heißgeliebte Polyester-Schürze gegen einen Pelzmantel und eine Pelzkappe, die betörend nach Mottenkugeln dufteten.

Wer die Papa-Oma jetzt für eine Philanthropin hält, irrt. Sie war eine durch und durch berechnende und durchtriebene Hausfrau. Zeit ihres Lebens waren Oma und der Rest der Familie dank ihrer Back- und Lieferkünste VIP-Patienten mit Anspruch auf ärztliche Spontankonsultationen zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Ein bisschen verdankten wir unseren VIP-Status auch Omas Krankenversicherung, denn die Arztkekse waren mitnichten karitativ gedacht. Omas Hobby waren Arztbesuche und sie nahm ihr Hobby sehr ernst. Als umsatzsteigernde Stammkundin war sie in jeder Praxis ein oft und gern gesehener Gast.

Oma übte ihr Hobby sowohl allein als auch im Verein aus, wobei ihr Zweiteres deutlich mehr Spaß machte. Die Vereinsheime befanden sich in Bad Gastein, Bad Ischl, Bad Schallerbach, Bad Radkersburg oder sonst irgendeinem idyllisch gelegenen Bad. Wenn Oma vom Vereinsausflug erzählte, klang das so: „Im Zimmer waren wir zwei Hüften und ein Knie“ oder „Am Tisch saßen vier Knie, zwei Hüften und eine Schulter“.

Auf Geheiß diverser Ärzte war Oma Nichtraucherin. Da sie aber eigentlich Raucherin war, hielt sie sich behelfsmäßig ein paar rauchende Enkelkinder, die sie großzügig mit Münzen für den Zigarettenautomaten ums Eck sponserte, um sie dann heimlich im Hof anzuschnorren.

Die Frage, was zuerst da war, Omas Hobby oder ihre Leiden, ist ein bis dato ungeklärter Forschungsgegenstand diverser humanmedizinischer und philosophischer Fakultäten. Eines steht jedoch fest, niemand konnte so gut leiden wie die Papa-Oma.

Der Mama-Oma gelang das Leiden in Gegenwart von Ärzten hingegen so rein gar nicht. Sonst eigentlich schon. So schwer krank konnte sie jedenfalls gar nicht sein, als dass sie nicht mit frisch getöntem und onduliertem Haar, feschem Make-up und modisch gewandet quietschfidel in den Raum getänzelt wäre, wenn ein Arzt zu Besuch war. Besonders vorteilhaft war das immer dann, wenn es um die Bestimmung ihres Pflegegrades ging.

Ich kann das durchaus verstehen, Jahrzehnte lang hat sie sich für Verabredungen stets besonders schick gemacht und ausgerechnet jetzt, wo all ihre Dates gutsituierte Ärzte sind, soll sie damit aufhören?

Die Oma hatte nicht nur ein Faible für Mode, sondern fürs Einkaufen im Allgemeinen – aber keinen Führerschein. Ich schwöre, wenn Jeff Bezos das Online-Shopping nicht erfunden hätte, dann hätte es meine Oma getan. Gezwungenermaßen. Denn dort, wo sie lebte, gab im Umkreis von circa 50 Kilometern nichts zu kaufen.

Also erstand sie einfach alles, was es in Katalogen, im Werbefernsehen und auf „Busreisen“ zu kaufen gab. Nicht, dass sie irgendetwas davon jemals gebraucht (oder auch nur ausgepackt) hätte.

Ich habe von Omas Hobby jedenfalls sehr profitiert, ich bin stolze Besitzerin einer Decke aus überfahrenen Katzen gegen mein nicht vorhandenes Rheuma, eines entzückenden Handtuch-Sets in grün-geblümt und eines lebenslangen Vorrats an Glem vital Kurfestiger Kräuter für meine ebenfalls nicht vorhandene Dauerwelle.

So verschieden meine beiden Großmütter auch waren, so hatten sie doch eines gemeinsam: Räumlichkeiten, die nur zu ganz speziellen Anlässen benutzt werden durften.

Die Papa-Oma wohnte in einem Haus mit zwei Stockwerken. Dem Alltags-Stockwerk und dem Museums-Stockwerk. Das eine war sehr zweckmäßig und schlicht eingerichtet, das andere war ein streng gehüteter Schatz, bitte nichts anfassen! Dort übernachten zu dürfen kam der Verleihung des Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich gleich.

Verbunden waren die beiden Stockwerke durch die Todes-Treppe. Die hieß so, weil der Erbauer des Hauses offensichtlich bei der Planung darauf vergessen hatte und nachträglich das abenteuerlichste Aufstiegskonstrukt hingepfuscht hat, das mir jemals untergekommen ist.

Die Mama-Oma wiederum trumpfte mit einem Stil-Wohnzimmer in gediegenen Braun- und Goldtönen auf, in dem alle guten Sachen verstaut wurden. Das gute Geschirr, die gute Tischwäsche, die guten Mäntel, der gute Schnaps. Als Wohnzimmer genutzt wurde es nur zu Weihnachten, was aber auch besser so war, denn das gute Zimmer war leicht entflammbar, wie sich eines Heilig Abends herausstellen sollte.

Passend zum guten Wohnzimmer hatte Oma eine Haustelefonanlage, die es ansonsten nur in besseren Hotels gegeben hat. So konnte ich zum Beispiel meinen heißgeliebten Pfefferminztee mit Honig und Zitrone sogar von ihrem Bett aus bestellen als wäre ich Gräfin Sonstwer.

In die Haustelefonanlage hat sich Herr Flanell fast so sehr verliebt wie in Olga, deshalb haben wir auch so ein Ding. Er dachte dabei an Bier- und Wurstbrotbestellungen von der Werkstatt an die Küche. Ich dachte dabei „Hab´ mich gern!“. Bedauerlicherweise hat das Haustelefon inzwischen einen unerklärlichen irreparablen Schaden.

Leider sind meine Großmütter beide schon verstorben. Erbtechnisch habe ich mich ein bisschen vertan. Weder kann ich Enten so zubereiten, dass sich ihr Tod gelohnt hätte, noch kann ich Weihnachtskekse backen, die zumindest geschmacklich dem hochfeierlichen Anlass gerecht werden.

Dafür habe ich Papa-Omas schlechte Knie und Mama-Omas schwaches Herz geerbt. Ob ich Papa-Omas Hobby später einmal übernehmen werde, habe ich noch nicht entschieden. Es würde sich jedenfalls anbieten, denn im Vereinsheim hätte ich einen klaren Vorteil: Ich könnte mir aussuchen, ob ich mich zu den inneren Organen oder zu den Gelenken setze.

Eine Sache habe ich bereits jetzt von meinen Großmüttern übernommen, als Ehrerweisung sozusagen: das teure Zimmer, das nicht benutzt werden darf. Ich opferte schweren Herzens den Fitnessraum.

In liebevoller Erinnerung an meine Großmütter. Und Olga.

PS:

Zu den für Außenstehende bestimmt sehr seltsam anmutenden Kochkünsten der Papa-Oma möchte ich anmerken, dass das köstliche Gerichte waren, die ich geliebt habe. Bis auf Hirn mit Ei. Da hat sie mich hereingelegt und mir erst im Nachhinein verraten, was ich gerade gegessen habe. Mir graust es heute noch. Oida, Oma, bin ich Hannibal Lecter?

Sollten Sie noch eine Großmutter haben, schreiben Sie sich die Rezepte Ihrer Lieblingsgerichte auf, bevor es zu spät ist! Für mich ist dieser Schatz leider für immer verloren.