Der Karl war mein Lieblingskollege. Das war er nicht immer. Bevor er mein Lieblingskollege wurde, war er – in dieser Reihenfolge – ein Faulsack, ein Selbstdarsteller, ein Schwätzer, ein Kollegenschwein und das Bulls Eye auf meiner Dartsscheibe.
Montag, 8 Uhr. Karl kommt in mein Büro. „Na, wie weit sind WIR mit UNSERER Präsentation?“ Ich versuche, Karl mit Blicken zu töten, er weigert sich, zu sterben. „UNSERE Präsentation ist fertig.“
Wir springen drei Tage zurück. Freitag, 13 Uhr. Der Assistent des Geschäftsführers ruft an. „Für das Quartalsmeeting am Montag ist heute ein Agendapunkt ausgefallen. Ihr sollt einspringen. Bereitet eine Präsentation vor, eventuell gibt es kurzfristig ein Budget für euer Projekt X. Die Entscheidung müsste dann aber schnell getroffen werden.“
Karl nimmt es locker. Ich habe nicht den Eindruck, dass er seinen Wochenendtrip gefährdet sieht. Ich sollte Recht behalten. „Ich kann dir da LEIDER nicht helfen, ich habe LEIDER schon was vor. Aber das ist doch EH genau dein Thema, das schüttelst du doch EH auf die Schnelle aus dem Ärmel.“
Ja, eh! Auf die Schnelle heißt, ich sitze fast das ganze Wochenende an der Präsentation. Immerhin bleibt mir noch genug Zeit, um den Kühlschrank zu füllen, die Wäsche zu waschen und all die anderen Sachen zu erledigen, für die ich unter der Woche nie Zeit habe. Karl postet indes Fotos vom Wochenendtrip auf seinem WhatsApp-Status.
Ich kommentiere ein Foto, auf dem er entspannt an seinem Eis lutscht, mit „Fick dich, Karl!“. Dann lösche ich den Kommentar wieder. Ist nicht mein Stil. Mein Stil ist Mord. Durch Blickkontakt.

Montag, 10 Uhr. Nachdem ich Karl ausführlich mit UNSEREM Konzept gebrieft habe, hält er UNSERE Präsentation vor der Geschäftsführung. Als Dienstälterer ist das sein Job, nicht meiner. Die Präsentation kommt gut an.
Karl kehrt mit stolzgeschwellter Brust zurück in mein Büro. „WIR haben das Projekt! WIR sollen sofort loslegen!“ Ich versuche, Karl mit Blicken zu töten, er weigert sich, zu sterben.
WIR legen also los. Ich beginne, an dem Projekt zu arbeiten, Karl lehnt sich erstmal zurück. Habe ich schon erwähnt, dass der Karl amtierender Weltmeister im Zurücklehnen ist? Der Ausdruck „Fremdscham“ hat eine ganz neue Bedeutung für mich, seit ich mit Karl zusammenarbeite. Jedes Mal, wenn ich von Kollegen aus anderen Abteilungen gefragt werde, was der Karl eigentlich den ganzen Tag macht, schäme ich mich dafür, dass mir mein eigener Kollege so fremd ist, dass ich die Frage nicht beantworten kann. Was wirft das denn bitte für ein Licht auf unsere Abteilung?
Um diese regelmäßig auftretende Situation weniger beschämend zu gestalten, habe ich mir folgende Taktik ausgedacht: Ich lasse Karl in meinen Schilderungen an allen möglichen Projekten federführend mitwirken. Keines davon gibt es tatsächlich, jedes davon klingt plausibel.
Himmel, was habe ich den armen Kerl schon mit Arbeit überschüttet in meiner imaginären Karl-Show. Dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen! Ich hoffe, er bekommt wegen mir keinen Burnout auf seiner Isomatte hinter dem Schreibtisch. Die hat er natürlich nur, weil er Rückenprobleme hat – ich vermute, vom vielen Zurücklehnen. Der ausgiebige Mittagsschlaf ist allenfalls ein Nebeneffekt.
Seit ich Karl kenne, habe ich auch einen neuen Maßstab, was Chaos angeht. So ein Büro habe ich noch nie zuvor gesehen. Während der Rest der Abteilung hart für das papierlose Büro kämpft, ist Karl der Che Guevara der Papierindustrie.
Erst hielt ich ihn für einen Messie, inzwischen habe ich aber einen anderen Verdacht: Der türmt das Papier auf seinem Schreibtisch als Schutzwall auf! Wer auch immer Karls Büro betreten möchte, macht noch an der Türschwelle wieder kehrt. „Um Himmels Willen, der Ärmste erstickt ja bereits in Arbeit, dem kann ich unmöglich noch mehr umhängen!“
Mittwoch, 10 Uhr. Ich stehe vor Karls Schreibtisch und bitte ihn, sich UNSERE Analyse anzusehen, bevor ich sie an die Geschäftsführung schicke. „Du, tut mir leid, aber ich habe gerade überhaupt keine Zeit. Ich muss nächste Woche meine Dissertation einreichen.“ Ich versuche, Karl mit Blicken zu töten, er weigert sich, zu sterben.
Wir springen ein halbes Jahr vor. Mittwoch, 18 Uhr, gemütliches Beisammensein mit der Geschäftsführung beim Heurigen anlässlich des erfolgreichen Projektabschlusses. Karl berichtet tief ergriffen, was man alles schaffen kann, wenn man nur fest an einem Strang zieht und begriffen hat, was Teamwork wirklich heißt.
Er bedankt sich bei SEINEM Projektteam für die tolle Arbeit, die Geschäftsführung bedankt sich bei IHM. Bei der Gelegenheit gratuliert man ihm auch gleich zum Doktortitel. Wie schafft er das nur alles gleichzeitig, dieser Teufelskerl?
Ich speibe auf den Heurigentisch. Vorerst nur imaginär, ich habe noch nicht genug Wein getrunken. Mach nur so weiter, Karl!
Donnerstag, 8 Uhr. Karl kommt in mein Büro. „Na, war doch super gestern Abend, oder? Die sind total begeistert von UNS!“ Ich versuche, Karl mit Blicken zu töten, er weigert sich, zu sterben.
Donnerstag, 8:30 Uhr. Ich gehe zu meinem Chef und kündige. „Du brauchst mich hier doch gar nicht, du hast ja den Karl!“
So, jetzt fragen Sie sich zurecht, warum der Karl denn nun eigentlich mein Lieblingskollege war. Ganz einfach:
Ich habe in ein paar Jahren Zusammenarbeit mit Karl mehr über das Arbeitsleben gelernt als ich es in vielen Jahren Zusammenarbeit mit Susi, Elfi, Yvonne, Verena, Kathi und Caroline jemals für möglich gehalten hätte.
Bei der Korrelation zwischen Geschlecht und Rollenverständnis handelt es sich selbstverständlich um lauter Einzelfälle. Der Idiot in der Geschichte heißt jedenfalls nicht Karl.
Am Ende des Monats stand auf Karls Gehaltszettel stets ein deutlich höherer Betrag als auf meinem. Sie sehen, Teamwork zahlt sich richtig aus, wenn man das richtige Team hat!
Der Karl und ich, wir waren definitiv ein tolles Team. Ich habe Karl erfolgreicher gemacht und er mich klüger. Win, win!
Danke für alles, Karl!
Deine Coco Flanell
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