Die Schlitzohren

Großes Unternehmen, Finanzbranche. Wir überspringen die drei Gesprächsrunden mit HR, Abteilungsleiter und Bereichsleiter, die offensichtlich gut für mich gelaufen sind, da man mir einen Dienstvertrag zuschickt.

Der Bewerbungsprozess war einer der professionellsten, die ich jemals erlebt habe. Chapeau! Kurze Reaktionszeiten, schnelle Entscheidungen. Dazu fachlich tiefergehende Gespräche und echtes Interesse an meinen Ansichten. Perfekt!

Ich erwarte also auch mit dem Arbeitsvertrag keine Probleme. Der erweist sich jedoch als richtige Wundertüte, gefüllt mit allerlei unguten Klauseln: All-in; Verlängerung der kollektivvertraglichen Kündigungsfrist für den Dienstnehmer; Verweigerung einer Angabe von Jobtitel, Funktion und Dienstort; Konkurrenzklausel inklusive Konventionalstrafe usw.

Ich wende mich an meinen HR-Kontakt, um Vertragsänderungen zu besprechen, blitze aber in allen Punkten ab. Mein ursprünglich so guter Eindruck bekommt erste Dellen, aber daran soll es nicht scheitern.

Daran schon: Das angegebene Gehalt entspricht zwar der Vereinbarung, was jedoch nicht besprochen war, ist eine Aufsaugungsklausel. Kennen Sie nicht?

Aufsaugungsklausel

Ausgangslage ist ein über das kollektivvertraglich festgelegte Mindestentgelt hinausgehendes Gehalt, also eine Überzahlung. In meinem Beispiel All-in, sprich Mehr- und Überstunden in einem gewissen Ausmaß sind durch die Überzahlung abgedeckt und werden nicht gesondert vergütet. Ich persönlich würde das lieber BEzahlung als ÜBERzahlung nennen. Ich habe jedenfalls noch keinen Angestellten mit All-in-Vertrag kennengelernt, der einen Vorteil daraus ziehen würde und die inkludierten Mehr- und Überstunden nicht in voller Höhe erbringt. Mich selbst eingeschlossen.

Durch die Vereinbarung einer Aufsaugungsklausel im Arbeitsvertrag wird das Ansteigen des Ist-Gehalts zeitlich begrenzt verhindert. Das Gehalt ist also „eingefroren“. Allfällige kollektivvertragliche Lohnerhöhungen, die üblicherweise jährlich zwecks Inflationsausgleich erfolgen, sind von der Überzahlung abgedeckt. Je nach Höhe der Überzahlung dürfen dadurch zwei bis drei Gehaltserhöhungen ausgesetzt werden. Die ursprünglich verhandelte Überzahlung verringert sich dabei jedes Mal um den Betrag, um den das kollektivvertragliche Grundgehalt steigt. Sie wird also aufgesaugt.

Sie verdienen somit von Jahr zu Jahr weniger, da Ihr gleichbleibendes Gehalt durch die Inflation an Kaufkraft verliert. Also ein Reallohnverlust. Obwohl Ihr Wert für das Unternehmen mit der Zeit steigt, Sie entwickeln sich ja weiter und bleiben nicht auf ewig „der Neue“.

Stellen wir uns das einmal umgekehrt vor: eine Klausel im Arbeitsvertrag, die festlegt, dass der Dienstnehmer anfangs alle vereinbarten Aufgaben erledigt, dann jedoch Jahr für Jahr nachlässt. Welcher Dienstgeber würde so etwas unterzeichnen?

Ich möchte, dass der Passus aus dem Vertrag gestrichen wird. Wir sprechen hier von einem Durchschnittsgehalt und nicht von Sphären, in denen es „eh wurscht“ ist. Keine Chance!

„Entweder Sie akzeptieren – so wie jeder hier – unseren Standardvertrag, oder Sie gehen.“

Ich gehe.

Ob ich den Mitarbeitern dieses Finanzdienstleisters mein Vermögen zwecks Vermehrung anvertrauen würde? Lassen Sie mich überlegen …

Um Sie nicht vollkommen zu desillusionieren, was die Jobsuche angeht, werde ich nächste Woche an dieser Stelle Positives berichten. Es gibt sie durchaus, die Bewerbungsprozesse, bei denen alles glatt läuft! Der Arbeitsvertrag ist unterzeichnet, die Probezeit überstanden, was soll jetzt noch schief gehen?

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