Ich habe vor Kurzem ein sehr interessantes Interview* mit dem Generaldirektor der Österreichischen Post AG, Walter Oblin, gelesen, das mich nachhaltig beeindruckt hat. Er moniert, dass in Österreich der Abstand zwischen arbeitsfreiem Einkommen und Niedriglöhnen seiner Meinung nach zu gering ist. Selbstverständlich erscheint ihm das arbeitsfreie Einkommen zu hoch und nicht der Niedriglohn zu niedrig. Endlich einmal einer mit vernünftigen Ansichten!
Mir scheint, der arme Herr Oblin fristet ein sehr reizloses Dasein – fehlende Anreize dürften sein großes Reizthema sein. Erstens gibt es ihm zu wenig Anreize, überhaupt zu arbeiten. Zweitens fehlen ihm die Anreize, Vollzeit statt Teilzeit zu arbeiten. Und drittens, wo bleiben die Anreize, übers Pensionsantrittsalter hinaus zu arbeiten?

Die Verantwortung für all die fehlenden Anreize sieht er allerdings nicht bei sich als Unternehmer, sondern bei der Bundesregierung. Aber was will man auch anderes machen, als bei der Regierung billigere und willigere Arbeitskräfte zu ordern, wenn einem die Humanressourcen ausgehen, während die Aktionäre bedient werden möchten? Mir fiele da auch absolut nichts ein.
STANDARD: Warum findet man die Arbeitskräfte nicht in Österreich?
Oblin: Einerseits haben wir natürlich gewisse demografische Entwicklungen. Es liegt aber auch daran, dass sich Leistung und Arbeit zu wenig lohnt. Gerade in niedrig qualifizierten Berufen ist der Abstand zwischen arbeitsfreiem Einkommen – also Mindestsicherung oder Arbeitslosengeld – und Einkommen oft zu gering, um einen Anreiz zu bieten. Es fehlen auch die Anreize, von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln, wenn beispielsweise noch Kosten für die Kinderbetreuung dazukommen. Menschen rechnen sich das durch und entscheiden, dass es sich nicht lohnt. Es gibt jetzt richtige erste Schritte der Bundesregierung, aber die reichen nicht. Wir haben auch zu wenige Anreize, länger zu arbeiten. Am Ende ist die Summe der Arbeitsleistung, die wir alle erbringen, der Wohlstand, den wir haben.
Bei der Erläuterung, was unter arbeitsfreies Einkommen fällt, sind Herrn Oblin spontan nur die Mindestsicherung und das Arbeitslosengeld eingefallen. Ein paar weitere, nicht ganz unwesentliche arbeitsfreie Einkommensarten sind ihm durchgerutscht. Das war vermutlich auf den Eifer des Gefechts zurückzuführen und keine Absicht.
Ich sehe das übrigens genauso wie Walter Oblin. Es gehören dringend Anreize her, auch noch mit 70 Jahren als Post-Zusteller zu arbeiten. Wer soll sonst der steigenden Anzahl arbeitsfreier Personen, die im ständigen Dilemma von zu wenigen Verpflichtungen bei gleichzeitig zu viel Geld ihre Tage mit Konsum füllen müssen, ihre Flut an Paketen mit dringend benötigten Waren zustellen?
Es kann ja nicht sein, dass es sich Opa Rudi bereits nach 50 Arbeitsjahren im Seniorenheim bequem macht, während der 25-jährige Justus, von Berufs wegen Sohn, geschlagene 17 Stunden auf die Lieferung seines neuen iPhones warten muss.
Außerdem betont Walter Oblin, wie wichtig ein wertschätzender Umgang mit Mitarbeitern ist. Er hat bei der Post sogar ein – ich zitiere – Leuchtturmzeichen gesetzt und gestattet seinen Untertanen nun als Akt der Wertschätzung, ihn zu duzen. Zuvor wurde er ehrfurchtsvoll mit „Herr Generaldirektor“ angesprochen. Ich finde, das geht zu weit. Ordnung muss sein! Hackordnung erst recht.
Auch der Herr Generaldirektor spricht jeden seiner 20.000 Mitarbeiter jetzt mit dem Vornamen an. Und trotzdem findet er zu wenig Personal.
STANDARD: Wie schafft man es denn, dass ein Job Freude macht?
Oblin: Unter anderem durch wertschätzenden Umgang miteinander. Als wichtiges Leuchtturmzeichen haben wir vor vier Jahren zum Beispiel das Du-Wort im gesamten Konzern eingeführt, vom Lehrling bis zum Vorstand.
STANDARD: Wie hat das funktioniert?
Oblin: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Hierarchien und Distanzen abgebaut hat. Auch für mich. Es macht einen Unterschied, ob ich in eine Zustellbasis gehe und die Kolleginnen und Kollegen mit ihrem Vornamen begrüße und die zu mir nicht "Herr Generaldirektor", sondern "Walter" sagen. Das hat die Zusammenarbeit leichter gemacht.
Den Menschen in diesem Land geht es einfach zu gut, da gebe ich Herrn Oblin schon recht. Die wünschen sich allen Ernstes nicht nur einen überheblichen Chef, sondern fordern auch noch akzeptable Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Es wird dringend einmal wieder Zeit, ihnen zu zeigen, wo der Bartl den Most holt.
Lieber Walter – ich darf doch du sagen? –, wenn du Unterstützung beim Händeringen nach Arbeitskräften benötigst, gib mir Bescheid. Für dich nehme ich mir gerne Zeit. Wäre es dir sonntags recht? Das ist leider der einzige Wochentag, an dem ich neben Vollzeitjob, Überstunden, Haushalt, Instandhaltungsarbeiten, Wocheneinkäufen und sonstigen notwendigen Erledigungen Zeit hätte.
Beschämt muss ich zugeben, dass ich es mir nicht leisten kann, dafür Personal zu engagieren. Wofür arbeite ich eigentlich Vollzeit?
Solltest du jemanden kennen, der mir im Tausch gegen ein bisschen Wertschätzung den Haushalt schupft, wäre ich dir sehr dankbar. Meine Wertschätzung würde ich ausdrücken, indem ich die Person liebevoll „meine Perle“ nenne. Duzen lasse ich mich aber nicht von ihr. Wie gesagt, das geht mir zu weit.
Also treffen wir uns einmal sonntags, ja? Erholung wird ohnehin überbewertet. Auch in diesem Punkt sind wir uns nach meiner Recherche zu den Arbeitsbedingungen der Post-Zusteller offensichtlich einig. Außerdem, wer braucht schon Erholung, wenn er Freude an der Arbeit hat?
STANDARD: Großes Thema ist für viele Menschen heute ja auch der Sinn, den ihnen ein Beruf bieten muss.
Oblin: Den Sinn muss natürlich jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin selbst finden, aber wir sind überzeugt, dass es bei der Post wirklich sinnvolle Arbeit mit gesellschaftlicher Relevanz gibt. Darum sind Sinn, Leistung und Freude die zentralen Werte unserer Unternehmenskultur.
Es geht doch nicht an, dass sich all die Schmarotzer da draußen und die Drückeberger, die sich auf ihren Betreuungspflichten ausruhen, nicht um Zusteller-Jobs bei der Post prügeln, wo sie doch sogar du zu dir sagen dürfen. Wo soll das alles noch hinführen?
Okay, reich wird man mit einem Job bei der Post nicht, das brauche ich dir mit deiner lächerlichen Jahresgage von 1.872.914 Euro* ja nicht zu erzählen. Aber gibt es eine sinnstiftendere und erfüllendere Tätigkeit, als Billa-Flugblätter und Hofer-Prospekte zu verteilen?
Ich glaube, diesen verwöhnten und wählerischen Menschen, die sich nicht bei dir bewerben wollen, ist gar nicht bewusst, welchen betriebs- und volkswirtschaftlichen Schaden ihre Geringschätzung gegenüber dem Beruf des Zustellers anrichtet.
Der Zoohandel geht vor die Hunde, weil die Kleintierhaltung zu anstrengend ist, wenn das Auslegepapier für den Hamsterkäfig nicht unverlangt frei Haus geliefert wird. Die Papierfabrikanten müssen kein Altpapier mehr fabrizieren, die Drucker haben keinen Dreck mehr zu drucken und die Abfallentsorger keinen Abfall zu entsorgen. Ganz zu schweigen von den Müllverbrennern, die keinen Müll zu verbrennen haben. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wacht endlich auf, ihr Post-Job-Verweigerer, ihr ruiniert unsere Wirtschaft!
Weißt du was, Walter? Wenn ich demnächst zum Händeringen bei dir vorbeikomme, lass uns doch nebenbei gemeinsam über eine neue Employer-Branding-Kampagne für die Post nachdenken. Ich hätte da schon ein paar (an)reizende Ideen. Zum Beispiel würde ich dem Slogan einen kleinen Zusatz verpassen: Die Post bringt allen was. Nicht nur Walter.
Und weil ich du zu dir sagen darf, stelle ich dir für meine Leistung selbstverständlich auch keine Rechnung.
Du, Walter, ich freue mich schon auf unsere wertschätzende Zusammenarbeit!
Deine Coco Flanell
Das komplette Interview lesen Sie hier:
Post-Chef Oblin: „Anreize fehlen, von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln“ – Karriere – derStandard.at › Karriere
Die Suche nach kritischen Fragen an Herrn Oblin können Sie sich übrigens sparen. Ich war so frei und habe das bereits für Sie erledigt. Es gibt keine.
*derstandard.at, 19. Juni 2025, 9:00 Uhr | Interview: Franziska Zoidl
*Quelle: Vergütungsbericht für die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats der Österreichischen Post AG für das Geschäftsjahr 2024