Heute möchte ich Ihnen meine Lieblings-Sitcom vorstellen. Sie heißt LinkedIn und kommt – wie die meisten Sitcoms – aus den USA. Die Handlung ist schnell erklärt: LinkedIn ist eine aufregende Metropole, in der ausschließlich sehr erfolgreiche, sehr kluge und überhaupt sehr tolle Menschen leben.
Den ganzen Tag lang tauschen sich die Einwohner von LinkedIn über ihre Heldentaten aus. Wann diese erbracht werden, geht aus der Handlung nicht hervor. Während der Arbeitszeit jedenfalls nicht, die ist der Berichterstattung vorbehalten. Und dem Besuch sehr wichtiger, sehr inspirierender Events zu sehr innovativen, noch nie dagewesenen Themen.
Wie bei jeder anständigen Sitcom, gibt es auch bei LinkedIn ein bezahltes Publikum, das auf Befehl lacht und applaudiert. Oder gratuliert – Gratulieren ist auch sehr wichtig in LinkedIn.
Das Karrierenetzwerk LinkedIn gibt es bereits seit 22 Jahren, als Very Late Adopter habe ich es aber erst vor Kurzem für mich entdeckt. Bislang hatte ich dafür einfach keine Verwendung, für die Jobsuche ist LinkedIn aber sehr aufschlussreich. So manche Bewerbung konnte durch einen virtuellen Besuch bei den potenziellen Vorgesetzten und Kollegen gerade noch verhindert werden.
Wenn ich schon mal beim Besuchen bin, schaue ich auch gleich bei früheren Weggefährten vorbei. Mal sehen, was es Neues gibt.
Was soll ich sagen? Ich stehe seit 25 Jahren im Berufsleben, dementsprechend gut bis sehr gut habe ich viele Menschen und ihre Fähigkeiten, Leistungen und Laufbahnen kennengelernt.
Wie sich das teilweise bei LinkedIn liest, ist Comedy pur. Oder soll das Satire sein? Da gibt’s Kandidaten, die haben online glatt eine zweite Persönlichkeit.

Bislang bin ich nur Zaungast, aber warten Sie nur ab, bis ich demnächst auch so ein erfolgreicher CxO in einem super innovativen, nachhaltigen, zur Weltrettung angetretenen Unternehmen bin …
Darsteller und Publikum
LinkedIn bietet sendungsbewussten Menschen Raum und Mittel, um an ihrer (virtuellen) Karriere zu basteln und sie öffentlich auszustellen. Die einen basteln mit Bauplan, die anderen einfach munter drauf los.
Gutes tun und darüber reden, lautet die Devise. So simpel, wie es klingt, ist das aber scheinbar gar nicht. Erst die Taten, dann die Worte! Der Teufel liegt im Detail, die Reihenfolge ist entscheidend. Oft findet man überhaupt nur die Worte, die Taten sucht man vergeblich.
Jeder Darsteller braucht natürlich Publikum. In LinkedIn sind das jene Menschen, die gerade erst auf den Zug – oder das Trittbrett – aufspringen. Neuankömmlinge auf der Karriereleiter, Mitläufer, von Geschäftsführung oder Marketing Zwangsbeglückte usw.
Bevor sie selbst aktiv werden, nisten sie sich erstmal in den LinkedIn-Bubbles ihrer Vorgesetzten und der Geschäftsleitung ein und versuchen, sich dort bemerkbar zu machen. Das geschieht mal mehr, mal weniger subtil. Ein Applaus hier, ein geteilter Artikel da … besonders Ambitionierte reagieren auf jeden Beitrag, sicher ist sicher.
Wer genug applaudiert und geteilt hat, wagt sich an die ersten eigenen Beiträge. Die starten meistens so: „Gerade war ich auf diesem unheimlich inspirierenden Event …“. Inhalt und Stil erinnern dabei nicht selten an den unvermeidlichen Schulaufsatz über die Sommerferien – erinnern Sie sich noch?

Der Rest des Publikums ist aus lauter Langweile bereits eingeschlafen. Das dürfte der überwiegende Teil der „Nutzer“ sein. Ihnen war LinkedIn ab der Sekunde wieder egal, in der die Registrierung abgeschlossen war.
Man hat halt ein Profil, weil alle eines haben. Das LinkedIn-Profil reiht sich ein in eine lange Liste unnötiger Anschaffungen, zu denen man sich, wohlwissend, dass man sie nicht nutzen wird, hinreißen hat lassen. Fahrradergometer, Cocktailshaker, Muffinblech, LinkedIn-Profil.
Meine Stichprobe ist natürlich verschwindend klein bei über einer Milliarde LinkedIn-Nutzern weltweit, ich ahne jedoch, sie könnte dennoch repräsentativ sein.
Handlung
Vor lauter open minded Enthusiasts, Evangelists und Innovators mit Hands-on-Mentality, Passion for sonstwas, Blabla-Mindset und Drive to whatsoever wird einem ganz schwindelig!
Im Minutentakt ist jemand thrilled to announce, dass er befördert wurde zum *fancy Jobtitel bitte hier einsetzen*. Unter „Head of“ geht hier gar nichts, wir sind schließlich in LinkedIn.
So aufregend die Profile sind, so vollkommen an Unterhaltungs- oder sonstigem Wert fehlt es leider den meisten Beiträgen. Die Echokammer platzt bereits aus allen Nähten. Was da an Belanglosigkeiten, Wiedergekäutem und Radneuerfindungen kopiert, gepostet, geliked, geteilt und kommentiert wird, wirft Fragen bei mir auf. Allen voran diese:
Haben Menschen mit Schreibtischjobs wirklich so wenig zu tun, dass sie ihren Arbeitstag mit krampfhafter Selbstdarstellung füllen müssen?
Man hastet von einem sensationellen Event zum nächsten. Always busy, always on track. Überall trifft man auf grandiose Menschen, führt unheimlich wertvolle Gespräche und macht gemeinsam irrsinnig inspirierende Erfahrungen. Ganz schön anstrengend, aber das ist es wert. Tired but inspired! Man weiß schon gar nicht mehr wohin mit all der Dankbarkeit für den Wahnsinns-Input aus der Community.
Apropos Community, die möchte man stets informiert und up to date halten. Ob sie will oder nicht. „Viele von euch haben mich gefragt, *Frage, die nie gestellt wurde, bitte hier einsetzen*.“
Es dürfte ein schmaler Grat sein zwischen LinkedIn wegen Boreout und Burnout wegen LinkedIn. Zum Glück kann die geistige Schwerstarbeit inzwischen an ChatGPT ausgelagert werden.
Würde man ab jetzt nie wieder menschliche Intelligenz hinzufügen, LinkedIn würde trotzdem laufen. Näher am Perpetuum mobile war noch niemand dran. Ich gratuliere den Erfindern! Chapeau, meine Herren!
Über eine Milliarde Nutzer weltweit – Wahnsinn, gibt das eine Menge heißer Luft!
Durchaus löblich zu erwähnen ist die Rücksichtnahme auf Nutzer mit Leseschwäche. Barrierefreiheit wird sehr ernst genommen in LinkedIn, der großzügige Einsatz von Emojis ist das Mittel der Wahl. Man fühlt sich beinahe in die Volksschulzeit zurückversetzt. Aber nur beinahe.

Hinter den Kulissen
Was die Einwohner von LinkedIn an Wochenenden machen, weiß man nicht. Die Wochenenden sind nicht so thrilling, dass man etwas announcen müsste.
Mangels öffentlicher Berichterstattung der Protagonisten müssen wir unsere Phantasie spielen lassen. Meine bietet mir zum Beispiel folgende Szene an:
Sonntag, Kaffee und Kuchen bei Oma. Oma fragt: „Bub, was machst du eigentlich beruflich?“ Der Enkel antwortet: „Oma, ich bin Evangelist.“
Oma driftet gedanklich sofort ab, vor ihrem geistigen Auge sieht sie Erna und Helga aus dem Kirchenchor schon vor Neid erblassen ob des frommen Enkels. Deren Enkel sind nämlich bloß Tischler und Elektriker.
Bis Omas neuer Liebling, der den geistigen Ausflug zu Erna und Helga mit Ratlosigkeit verwechselt, sie mit folgenden Worten auf den harten Boden der Realität zurückholt: „Ich bin Verkäufer, genau wie Opa.“ Opa Sepp war Vorwerk-Vertreter.
Service-Angebot
Sollte ich Ihnen gerade auf den Schlips getreten sein, schicken Sie ihn doch bitte an hallo@cocoflanell.at. Ich werde ihn liebevoll waschen, stärken und bügeln. Damit Sie wieder fesch sind beim nächsten inspirierenden Event.