Schicht im Schacht!

Haben Sie 10 Minuten Zeit? Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen. Ich lasse die Hosen runter, mitten im Internet. Triggerwarnung: Krise, Frust, Trennung.

Es ist vorbei

Ich habe das Handtuch geworfen. Ich bin raus. Endgültig. Gleichzeitig mit meinem letzten Arbeitgeber habe ich auch mit meinem Beruf Schluss gemacht. Noch auf dem Heimweg. Das war ohnehin längst überfällig, ich wollte ihn schon lange loswerden. Es hat einfach nicht mehr gepasst zwischen uns, wir haben uns auseinandergelebt.

Zusammengekommen bin ich mit meinem Beruf vor genau 26 Jahren rein zufällig. Geträumt habe ich nicht von ihm. Und wäre er mir bei Tinder untergekommen, ich hätte ihn weggewischt. In real life hat´s dann aber doch geklappt mit uns und wir haben eine lange, mal mehr, mal weniger glückliche Beziehung geführt. Wie das eben so ist.

Meinen imaginären Enkelkindern muss ich einmal folgende traurige Story erzählen, wie Oma und ihr Beruf sich damals kennengelernt haben:

Es war im Sommer 1999. Ich hatte gerade eine Schule beendet, die mich fünf Jahre lang genau null interessiert hat, lebte im langweiligsten Dorf der Welt und brauchte dringend Geld, um dem Elternhaus zu entfliehen und in die große, aufregende Stadt zu ziehen. Ich hätte jeden Job angenommen, ich wusste sowieso nicht, was ich einmal werden will. Also habe ich wahllos ein paar Bewerbungen geschrieben und vier Wochen nach der Matura war mein Schicksal besiegelt. Ein Beruf hatte mir zurückgeschrieben. Die große Liebe war es von Anfang an nicht, aber nachdem sonst niemand auf meine Avancen eingegangen war, sind wir halt ein Paar geworden.

Wäre ich gerade noch rechtzeitig von einem dümmlichen, aber gutaussehenden Prinzen aus aus den Fängen meines Berufs befreit worden, es wäre der klassische Disney-Plot.

Welcher Beruf es geworden ist? Manager. Und was für einer! Marketingmanager, Kampagnenmanager, Brand Manager, Mediamanager, Account Manager, Projektmanager, Customer Relations Manager, Kommunikationsmanager, Budgetmanager, Produktionsmanager und Vergabemanager. An manchen Tagen alles in Personalunion.

Manager steht in diesem Kontext übrigens für „Mädchen für alles“. Nicht für Führen, Gestalten, Entscheiden und gutes Geld. Nur, damit wir uns da nicht missverstehen.

Herr Flanell wusste bis zuletzt nicht so recht, womit seine Frau eigentlich ihr Geld verdiente. Er wusste nur, dass es unheimlich wichtig sein musste für den Fortbestand der Menschheit, sonst hätte sie ja auch einmal pünktlich Feierabend machen können. Aber was soll man machen, Batman kann auch nicht um 17 Uhr den Stift fallen lassen, wenn Gotham City ihn braucht.

An der ganzen Misere war ich selbst schuld!

  • Erstens habe ich nie etwas Vernünftiges gelernt.
  • Zweitens hatte ich nie eine Idee für eine selbstständige Tätigkeit, von der ich hätte dauerhaft leben können. Außerdem graut mir vor Selbstvermarktung.
  • Drittens brauche ich Abwechslung und Herausforderungen, sonst gehe ich ein wie eine Topfpflanze ohne Wasser. Deshalb bin ich immer in Allrounder-Positionen gelandet und habe regelmäßig Projekte übernommen, die zwar mit meinem Job nichts zu tun hatten, bei denen ich aber etwas Neues lernen konnte. Ehe ich mich´s versah, war ich die, die alles kann und alles macht.

Arbeitsbiene

Alles, was ich an Fähigkeiten und Stärken anzubieten hatte, machte mich zur perfekten Arbeitsbiene. Und damit wäre ich eigentlich vollkommen einverstanden gewesen. Aus mir muss nicht erst „etwas werden“, ich bin auch so schon etwas, ganz von Natur aus.

Ich wäre eine rundum zufriedene Arbeitsbiene gewesen, wenn man nicht permanent alles daran gesetzt hätte, noch mehr Honig aus mir herauszuquetschen.

Ich hätte mich nach getaner Arbeit in meine gemütliche Wabe verkrochen, eine Schallplatte aufgelegt, mir etwas Feines gekocht und manchmal ein Glas Wein dazu eingeschenkt, ein paar Notwendigkeiten im Haushalt erledigt und dann ein Buch gelesen. An besonders guten Tagen hätte ich davor sogar noch eine Runde in der Natur gedreht. Ich wäre die langweiligste, aber glücklichste Biene der Welt gewesen.

Stattdessen kroch ich nach getaner Arbeit – meiner und der des Kollegen, der immer angekündigt, aber nie eingestellt wurde – vollkommen erledigt auf allen Vieren in meine Wabe, fiel dort direkt auf die Couch und wenn ich Glück hatte, schlief ich irgendwann ein. An freien Tagen kümmerte ich mich um sämtliche Notwendigkeiten im Haushalt. Irgendwo dazwischen quetschte ich noch die laufende Weiterbildung rein, ohne die es nicht lief in meinem Beruf.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

In meinen Zwanzigern war das noch nicht so. Ich habe in einer Werbeagentur gearbeitet und die sind ja nun wirklich nicht bekannt für eine gesunde Work-Life-Balance. Work ist dein Life, sonst machst du so einen Job nicht lange. Wegen des mickrigen Gehalts bleibt jedenfalls niemand, dafür lernt man unheimlich viel. Ist dein Profit Center nicht profitabel, bist du weg. Trotzdem hatte ich nach langen, stressigen Arbeitstagen noch genug Energie für ein Sozialleben, für Sport, für Kultur, zum Feiern und sogar für reichlich durchgemachte Nächte zwischen zwei Arbeitstagen. Monatelange Lehrgänge abends und an den Wochenenden? Na klar, kein Problem. Ich hatte Energie ohne Ende. Ja, es hat verdammt viel Spaß gemacht!

In meinen Dreißigern habe ich mich von einem Kunden abwerben lassen in der Hoffnung auf ein bisschen kürzere Arbeitstage. Zugegeben, das war naiv. Man holt sich ja niemanden aus einer Agentur, damit der dann eine ruhige Kugel schiebt. Die Hoffnung auf eine 40-Stunden-Woche ist also schnell geplatzt. Es gab jedoch einen großen Vorteil: Ich konnte nun schon um 6 Uhr in der Früh zu arbeiten beginnen. Somit endete ein 10-Stunden-Tag bereits um 16 Uhr und es blieb noch Zeit, sich allabendlich und an den Wochenenden in jahrelanger Handarbeit ein Heim zu schaffen. Die wilden Jahre in der Stadt waren vorbei, ich wollte am Land meine Ruhe haben. Ich landete im zweitlangweiligsten Dorf der Welt. Der Unterschied zu meinem Heimatort? Supermarkt und Baumarkt. Trotz der vielen Arbeit hat es verdammt viel Spaß gemacht!

Willkommen in meinen Vierzigern! Das Partymotto lautet „Multifaktorielle Krise“. Dresscode: Jogginganzug, beige. Meine Batterien sind leer und mein Beruf kotzt mich an. Ich fühle mich nach zweieinhalb Jahrzehnten einfach nur noch fehl am Platz in der Arbeit.

Bei der Vorstellung, mich weitere 20–25 Jahre mit Marketing, Werbung, Unternehmenskommunikation und Projektmanagement beschäftigen zu müssen, zieht sich alles in mir zusammen.

Ich spreche nicht von mangelnder Freude an der Arbeit – ich arbeite vorwiegend für Geld. Ich spreche von einem körperlich spürbaren Unbehagen.

Man könnte auch sagen, ich bin zu alt für den Scheiß. Ich trete zurück und gebe meinen Platz frei für junge Kollegen, die genau das machen wollen, und die froh wären, einen meiner abgelegten Jobs zu ergattern.

Mein Beruf und ich führten eine lange, zusehends freudlose und letzten Endes gescheiterte Ehe. Nach Drama und Trennungsschmerz ist Frau nun froh, ihren Alten erfolgreich an eine Jüngere abgetreten zu haben. Ihr ist er eh nur noch auf die Nerven gegangen mit seinem Geiz und dem ständigen „Mach dies, mach das!“. Die Neue kennt seine Marotten noch nicht und glaubt, sie hat den großen Fang gemacht. Er wiederum blüht in den zarten Händen der jungen Frau auf wie ein Schneeglöckchen im Februar. Win, win, win!

Coco Flanell hat sich von ihrem Beruf getrennt
Coco Flanell hat sich von ihrem Beruf getrennt.

Zeitverschwendung

Ich hoffe, meine Nachfolgerin möchte nicht reich werden, für Gold Digger ist mein Ex nämlich nichts!

Ich jedenfalls habe in meiner gesamten Berufslaufbahn keine (!) einzige (!) Überstunde ausbezahlt bekommen. Und wir sprechen hier von tausenden Überstunden über die Jahre hinweg. Sie würden sich wundern, was Unternehmen für Tricks auf Lager haben, um die Bezahlung oder den Ausgleich von Überstunden und die korrekte Berechnung von Zuschlägen zu vermeiden. Oder Sie wundern sich nicht, werfen mir einen mitleidig-wissenden Blick zu und denken sich, sieh an, noch so ein armes Schwein.

Ich verdiente zwar nach langer Durststrecke mittlerweile ganz gut, aber wenn ich mir meinen tatsächlichen Stundenlohn ausrechnete, musste ich heulen. Für die paar Netsch hätte ich es leichter haben sollen, ohne permanenten Termin-, Performance- und Kostendruck. Ohne Projekt- und Budgetverantwortung.

Geld gab es also keines für die Mehrleistung, dafür die herzerwärmende Gewissheit, ein paar Menschen ein sehr angenehmes Leben beschert zu haben. Sollten Sie unter einem Helfersyndrom leiden, sich aber nicht in einem Sozialberuf sehen, versuchen Sie es doch mit Marketing!

Die Zündschnur wurde kürzer und kürzer

Nach mehr als zwei Jahrzehnten Agentur- und Konzernerfahrung wollte ich etwas mit weniger Stress, kürzeren Abstimmungswegen und flacherer Hierarchie versuchen. NPO, KMU, Familienbetrieb oder so etwas. Haben Sie gerade laut aufgelacht?

Mein letzter Chef hat mir – angesprochen auf diverse Missstände und nach konstruktiven Vorschlägen meinerseits – unverblümt erklärt, dass Arbeitnehmer keine Ansprüche zu stellen haben, das obliege alleine ihm als Arbeitgeber. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass ein Dienstverhältnis eine freiwillige (!) Geschäftsbeziehung zwischen ZWEI Parteien ist, mit der beide Seiten zufrieden sein müssen.

Dankenswerterweise hat der Herr mir nicht nur seine fragwürdigen Vorstellungen eines zeitgemäßen Dienstverhältnisses frühzeitig offenbart, sondern auch davon abgesehen, zumindest in der Probezeit normale Arbeitszeiten vorzutäuschen. Er war genau 6 Arbeitstage bzw. 59 Stunden lang mein Chef, bevor sich unsere Wege auf dem Firmenparkplatz getrennt haben. Mein Kurzzeit-Boss ritt mit seinem neuen Luxus-SUV in den Sonnenuntergang, ich mit meinem 17 Jahre alten Kleinwagen – Leistung lohnt sich eben!

Im Job davor waren zwar ausnahmsweise einmal die Arbeitszeiten ein Traum, dafür der Job an Blödheit und Sinnlosigkeit nicht zu überbieten. Er bestand daraus, Projekte, die in wenigen Wochen erledigt sein könnten, auf Jahre auszudehnen, jede Entscheidung zu sabotieren und vermeiden und Listen, Dokumentationen und Berichte zu schreiben, deren einziger Zweck die Existenzberechtigung diverser Hierarchieebenen war.

Höhepunkt war eine einwöchige schriftliche Konversation inklusive – no na – ausführlichem Bericht, in dem ich darlegen musste, warum noch nicht alle 2.000 Mitarbeiter die neuen Abkürzungen verwendeten, die man sich ausgedacht hatte. Ernsthaft? Ernsthaft!

Möchten Sie wissen, was man mir für diese wertvolle Arbeit bezahlt hat? Ich habe mich geschämt. Dort habe ich es drei Monate ausgehalten, bevor ich schreiend aus dem Fenster gesprungen bin. Fast.

Im vorausgehenden Unternehmen wäre zwar etliches an strategischer Arbeit notwendig gewesen, man hat es aber bevorzugt, mich als überbezahlten Ferialpraktikanten einzusetzen. Ich kann meiner langen Liste an Skills und Erfahrungen nun eine weitere hinzufügen: Lagerlogistik. Ich durfte auch jede Menge Schulungsunterlagen formatieren und drucken, technische Dokumentationen binden und laminieren und Powerpoint-Präsentationen erstellen. Manchmal musste ich etwas bei Facebook posten, weil der 60-jährige Geschäftsführer das für den neuen heißen Scheiß hielt. 2023. Neun Monate hat es gedauert, bis mir die Hutschnur geplatzt ist.

Ich denke, das Muster ist offensichtlich.

Wenn ich also nur die Wahl habe zwischen viel zu vielen Überstunden, von denen ich nichts habe, abstrusen Prozessen, vollkommen anspruchs- oder sinnlosen Aufgaben oder einer Kombination aus allem, wähle ich: nichts davon!

Da stehe ich nun mit einem Beruf, den ich nicht mehr aushalte und Arbeitsbedingungen, die ich nicht mehr akzeptiere.

Gratuliere, Coco Flanell, das hast du toll hinbekommen! Solltest du in deinem Alter nicht langsam einfach resignieren und den Sinn des Lebens auf dem Golfplatz suchen?

Soweit kommt´s noch! Jahr(zehnt)elang resigniert, demotiviert oder gar frustriert vor mich hinzudümpeln ist keine Option, sondern mein Albtraum! Solange ich die Freiheit habe, mich zu verändern, werde ich alles daran setzen, meine Situation zu verbessern.

Kein Ausweg

Seit Jahren versuchte ich nun schon, einen neuen Weg einzuschlagen. Zuerst dachte ich an ein Studium plus Nebenjob. Massiv gestiegene Preise, Energiekosten und Kreditzinsen haben den Traum sehr schnell platzen lassen.

Also bewarb ich mich für berufsfremde Jobs, die ich mit meinen Fähigkeiten und Stärken bestimmt ebenso hätte ausüben können. Ich lerne gerne und schnell. Bestenfalls bekam ich eine Absage. Niemand hat Interesse an Quereinsteigern, solange sich genügend Kandidaten mit einschlägiger Erfahrung finden. Verständlich. Ausnahmen sind der Vertrieb – definitiv nicht meine Stärke – und prekäre Branchen, die alles an Arbeitskraft nehmen müssen, was sie bekommen können.

Und so landete ich immer wieder in meinem alten Berufsfeld. Dort konnte ich mir bislang die Jobs aussuchen. Noch! Seien wir ehrlich, ich bin mittlerweile 45 Jahre alt, in Marketing-Fuzzi-Jahren bin ich ein Dinosaurier.

Genauso gut könnte ich mich bei Heidi Klum als Topmodel bewerben. Seit die auf den Diversity-Zug aufgesprungen ist, würde ich vielleicht sogar eine Einladung zum Schaulaufen als Quoten-Alte bekommen, aber am Ende der Show hätte Heidi leider kein Foto für mich.

Die letzten Jahre waren ein einziges Gwirkst aus falschen Job-Entscheidungen, Fehlgriffen, Provisorien und Ratlosigkeit. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, mich frisst der Neid, wenn ich sehe, wie Mitmenschen so eine existenzielle Sinnkrise einfach durch den Kauf eines schnellen Motorrads oder ein neues Hobby beilegen können.

Kennen Sie den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Ich bin Bill Murray. Babe … … I got you babe …

Coco Flanell has left the fucking building

Mit meinem alten Beruf bin ich nun endgültig durch. Aber sowas von! Ein radikaler Richtungswechsel muss her. Kein Quereinstieg, ein Neuanfang!

Ich habe noch ein halbes Berufsleben vor mir, genug Zeit für eine zweite Karriere. Dennoch, einfach ist das nicht mit 45 Jahren, so mitten im Leben, mit festem Wohnsitz und finanziellen Verpflichtungen. Das schränkt die Möglichkeiten massiv ein. Aber es nicht zu versuchen, würde ich mir mein Leben lang vorwerfen.

Damit endet nicht nur meine Laufbahn, sondern auch mein Lebensstil. Der war zwar nicht luxuriös, aber doch mittlerweile recht komfortabel und materiell gesehen sorgenfrei. Schade drum. Adieu!


Der Möglichkeit, nein zu sagen zu den falschen Jobs, gingen über zwei Jahrzehnte Vollzeitarbeit voraus und viele, viele andere Neins. Nein zu teuren Reisen, nein zu neuen Autos, nein zu komfortablen Dienstleistungen … ja zum Notgroschen für berufliche Entscheidungsfreiheit. Kein Amt, kein Druck, kein schlechtes Gewissen, unpassende Jobangebote abzulehnen bzw. Dienstverhältnisse zu beenden.

Wie es nun weitergeht?